Seco und Digitalisierung
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title: "ASALfutur: Hochrisikoprojekt auf dem Rücken der Arbeitslosen" date: 2025-11-07 tags:
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ASALfutur: Hochrisikoprojekt auf dem Rücken der Arbeitslosen
Zum Jahreswechsel 2025/26 wagt das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) den letzten und heikelsten Schritt seines IT-Grossprojekts ASALfutur: Die Einführung der Leistungsart Arbeitslosenentschädigung (ALE) im neuen Auszahlungssystem ASAL 2.0. Dafür wird die IT-Infrastruktur der Arbeitslosenversicherung (ALV) für rund zwei Wochen weitgehend stillgelegt – inklusive Job-Room, RAV-Systemen und Auszahlungsplattformen.:contentReference[oaicite:0]{index=0}
Offiziell ist das ein «geplanter Betriebsunterbruch». In der Praxis bedeutet es: Ein hochkritischer Systemwechsel mitten im Winter – mit direkter Wirkung auf jene Menschen, die am abhängigsten von pünktlichen Zahlungen sind.
1. Was konkret geplant ist
Laut offizieller Projektkommunikation und den von Clarus News aufbereiteten Informationen stellt sich die Lage wie folgt dar::contentReference[oaicite:1]{index=1}
- Systemabschaltung:
- Vom 19. Dezember 2025, ca. Mittag, bis 6. Januar 2026, 07:00 Uhr stehen die Systeme von RAV, Arbeitslosenkassen und die Plattform Job-Room nicht zur Verfügung.
- Keine Auszahlungen während der Umstellung:
- Zwischen 22. Dezember 2025 und 6. Januar 2026 können keine Zahlungen der ALV vorgenommen werden; nur bereits vor dem 19. Dezember verarbeitete Auszahlungen gehen bis 22. Dezember noch raus.:contentReference[oaicite:2]{index=2}
- Vorgezogene Fristen:
- Stellensuchende sollen ihre Unterlagen ausnahmsweise ab 4. Dezember einreichen; alles muss bis 19. Dezember vorliegen, damit die Auszahlung im Dezember noch erfolgen kann.:contentReference[oaicite:3]{index=3}
Das SECO argumentiert, der Zeitpunkt über die Festtage reduziere die Anzahl betroffener Arbeitstage, und die monatliche Auszahlung sei grundsätzlich sichergestellt.:contentReference[oaicite:4]{index=4}
Auf X (Twitter) wird die Botschaft entsprechend glatt gebügelt: Ab 6. Januar 2026 laufe das neue System, während der Umstellung seien die Systeme eben nicht verfügbar – eine knappe, stark technisch fokussierte Kommunikation, die die realen Lebenslagen der Betroffenen nur am Rand streift.:contentReference[oaicite:5]{index=5}
2. Hochrisiko für Menschen mit dünnem finanziellen Puffer
Die offizielle Darstellung lässt einen entscheidenden Punkt unterbelichtet: Nicht alle Arbeitslosen haben Liquidität für zwei bis drei Wochen Verzögerung, geschweige denn für Unvorhergesehenes.
Kritische Fragen drängen sich auf:
- Was passiert mit Personen, deren Anspruch kurz vor oder während des Unterbruchs neu beginnt?
- Wie wird mit Korrekturen, Sanktionen oder rückwirkenden Anpassungen umgegangen, wenn die Systeme off sind?
- Welche Härtefallmechanismen existieren konkret, falls der Go-Live nicht glatt verläuft?
Aus Sicht der Betroffenen bedeutet der geplante Unterbruch:
- Erhöhtes Risiko von Mietrückständen, Mahnungen und Konsumschulden, wenn Zahlungen sich verschieben.
- Mehr Bürokratie und Stress: Wer die neuen Fristen und Formulare verpasst, riskiert Verzögerungen – obwohl er eigentlich nichts falsch gemacht hat.
- Asymmetrie der Verantwortung: Die Betroffenen müssen sich frühzeitig anpassen, während der Staat bewusst einen Blackout der Systeme in Kauf nimmt.
Diese kritischen Punkte werden in der offiziellen Kommunikation zwar indirekt adressiert, aber nicht ehrlich durchbuchstabiert – auch nicht im SECO-Tweet.
3. Projektgeschichte: Ein Dauerpatient der Bundes-IT
ASALfutur ist kein junges Experiment, sondern ein seit Jahren laufendes Schlüsselprojekt der Bundesverwaltung. Die Eidgenössische Finanzkontrolle (EFK) hat das Projekt mehrfach geprüft – und wiederholt Schwachstellen in Führung und Steuerung festgestellt: Das Fach sei zu wenig eingebunden gewesen, Empfehlungen mussten wieder und wieder nachgeschärft werden.:contentReference[oaicite:6]{index=6}
Wesentliche Punkte:
- Lange Projektlaufzeit: Das Projekt läuft seit über einem Jahrzehnt mit wiederholten Verschiebungen und Neuplanungen.
- Kostensteigerungen: Der Kostenrahmen wurde mehrfach nach oben angepasst; bereits 2021 lag das Projektvolumen laut EFK-Bericht bei rund 118 Mio. CHF – mit zusätzlichen Millionen durch Verzögerungen und externe Spezialisten.:contentReference[oaicite:7]{index=7}
- Komplexität von ALE: Die nun einzuführende Leistungsart Arbeitslosenentschädigung (ALE) macht etwa 90 % der ausbezahlten ALV-Leistungen aus – und ist laut EFK «die grösste Herausforderung» des Projekts.:contentReference[oaicite:8]{index=8}
Kurz gesagt: Man führt den mit Abstand wichtigsten und komplexesten Teil eines lange angeschlagenen Projekts ein – und dafür wird das System temporär stillgelegt. Das ist keine Routineoperation, sondern ein Hochrisiko-Eingriff am offenen Herzen des Sozialstaates.
4. Vorgeschichte: Wenn IT-Ausfälle schon einmal weh getan haben
Wer glaubt, dass es sich nur um ein theoretisches Risiko handelt, muss nicht weit zurückschauen:
- Im März 2025 kam es zu einem Software-/Netzwerkproblem im Umfeld des SECO, das dazu führte, dass Zehntausende Arbeitslose ihr Geld verspätet erhielten. Medienberichte sprechen von rund 135'000 Betroffenen, deren Auszahlungen mit ein bis zwei Tagen Verzögerung verarbeitet wurden.:contentReference[oaicite:9]{index=9}
Damals handelte es sich um einen ungeplanten Vorfall, der immerhin innerhalb weniger Tage bereinigt werden konnte. Trotzdem zeigte er deutlich:
Wenn die Auszahlungsinfrastruktur der Arbeitslosenversicherung ins Straucheln gerät, sind real existierende Menschen die Kollateralschäden – nicht abstrakte «Systembenutzer».
Vor diesem Hintergrund wirkt der nun geplante, deutlich längere Unterbruch besonders heikel: Was, wenn zur geplanten Downtime noch unvorhergesehene Probleme dazukommen?
5. Kommunikationsstrategie: Beruhigen statt ernsthaft einbinden
Die Informationspolitik von SECO und Bund folgt einem bekannten Muster:
- Es wird auf technisch korrekte, aber abstrakte Formulierungen gesetzt («Betriebsunterbruch», «Migration der Daten», «Effizienzsteigerung», «Erhöhung der Sicherheit»).:contentReference[oaicite:10]{index=10}
- Man betont, dass die monatliche Auszahlung «grundsätzlich sichergestellt» sei – formuliert aber nur bedingt transparent, wo genau die Risiken liegen.:contentReference[oaicite:11]{index=11}
- Die Kommunikation läuft primär top-down über Medienmitteilungen, amtliche Webseiten und Social-Media-Snippets, aber nicht in einer Sprache, die viele Betroffene intuitiv verstehen.
Aus demokratiepolitischer Sicht stellt sich die Frage:
Ist es legitim, ein derart kritisches Sozialversicherungssystem zwei Wochen offline zu nehmen –
ohne dass vorher eine breite politische Debatte über Alternativen, Kompensationen und Notfallmechanismen geführt wurde?
6. Alternativen, die offenbar nie ernsthaft diskutiert wurden
Der Clarus-News-Artikel weist bereits auf eine zentrale Leerstelle hin: Gab es Migrationsszenarien ohne Totalabschaltung?:contentReference[oaicite:12]{index=12}
Typische Alternativen in vergleichbaren Grossprojekten wären:
- Paralleler Betrieb von Alt- und Neusystem mit schrittweiser Umlagerung.
- Rollout nach Kantonen oder Kassen, statt Big-Bang-Umstellung.
- Feature-Flag-Ansätze, um kritische Kernprozesse (Auszahlung) maximal zu schützen und nur Teilfunktionen temporär einzufrieren.
Dass das SECO sich dennoch für einen kompletten Betriebsunterbruch entschieden hat, wird technisch begründet (Datenkonsistenz, Synchronisation, Vermeidung von Datenverlust). Aus Sicht eines kritischen Beobachters drängt sich jedoch der Eindruck auf:
Man optimiert primär für Systemlogik und Projektplanung – und nur sekundär für die soziale Robustheit gegenüber Fehlern.
7. Governance-Fragen: Wer trägt Verantwortung, wenn es schief geht?
Ein weiteres Problem ist die Diffuse Verantwortlichkeit:
- Das Projekt läuft seit Jahren unter wechselnden Zuständigkeiten und mit wiederholten EFK-Mahnungen.:contentReference[oaicite:13]{index=13}
- Politisch wird die Verantwortung auf Gremien, Aufsichtskommissionen und technische Projektleitung verteilt.
- Für die Betroffenen gibt es aber nur einen sichtbaren Akteur: den Staat – konkret das SECO und die Arbeitslosenkassen.
Fehlt ein klar benannter, politisch verantwortlicher «Owner» des Risikos, droht im Fehlerfall das übliche Muster:
- Betroffene sind kurzfristig ohne Geld.
- Kassen und RAV werden mit Notlösungen und Überstunden belastet.
- Verantwortliche verweisen auf «unvorhergesehene Probleme» und «komplexe IT-Projekte».
8. Was jetzt passieren müsste – bevor der Schalter umgelegt wird
Ein verantwortungsvoller Umgang mit einem solchen Systemwechsel würde mehr erfordern als technische Projektplanung und eine Medienmitteilung. Konkret wären nötig:
Transparenter Risikobericht für die Öffentlichkeit
- Klare Darstellung möglicher Fehlerbilder und deren Folgen für Leistungsbeziehende.
- Veröffentlichung der wichtigsten EFK-Empfehlungen und deren Umsetzungsstand in verständlicher Sprache.
Verbindliche Härtefall- und Notfallmechanismen
- Rechtlich abgesicherte Zusage, dass niemand aufgrund von Systemproblemen seine Miete oder Rechnungen nicht zahlen kann.
- Möglichkeit von Vorschusszahlungen oder Übergangsleistungen bei nachweisbaren IT-bedingten Verzögerungen.
Unabhängige Überwachung des Go-Live
- Begleitende Aufsicht (z.B. durch EFK oder externe Fachgremien), die während und unmittelbar nach dem Systemwechsel in Echtzeit prüft, ob die Prozesse funktionieren.
Echte Kommunikation auf Augenhöhe
- Informationskampagne in einfacher Sprache, mehrsprachig und über Kanäle, die Arbeitslose tatsächlich nutzen.
- Konkrete Beispiele: «Was muss ich bis wann tun?», «Was passiert, wenn ich die Frist verpasse?», «An wen wende ich mich, wenn kein Geld kommt?».
Nachträgliche politische Auswertung
- Verpflichtende öffentliche Evaluation: Hat der Systemwechsel funktioniert? Wer wurde wie stark belastet?
- Konsequenzen bei Fehlplanung – nicht nur auf Projektebene, sondern auch in der politischen Verantwortung.
9. Fazit
ASALfutur und die Einführung von ASAL 2.0 sind grundsätzlich legitime und wohl auch notwendige Schritte hin zu einer modernen, effizienteren Verwaltung. Niemand will, dass zentrale Sozialleistungen jahrzehntelang auf brüchigen Legacy-Systemen laufen.
Doch die Art und Weise, wie dieser letzte Einführungsschritt organisiert ist, zeigt ein strukturelles Problem der Schweizer Digitalpolitik:
- Technologie- und Projektlogik dominieren über sozialpolitische Vorsicht.
- Risiken werden nicht offen politisch diskutiert, sondern in technische Fachgremien ausgelagert.
- Diejenigen, die am wenigsten Spielraum haben – arbeitslose Menschen in finanziell angespannten Situationen – tragen de facto das grösste Risiko.
Ein Sozialstaat, der seine kritischste Infrastruktur bewusst zwei Wochen offline nimmt, muss sich eine unbequeme Frage gefallen lassen:
Dient die IT dem Menschen – oder muss der Mensch sich der IT-Logik unterordnen?
Solange diese Frage nicht offensiv und transparent beantwortet wird, bleibt ASALfutur weniger ein Zukunftsversprechen als ein riskanter Stresstest für das Vertrauen in die digitale Verwaltung der Schweiz.